Methodik und Vorgehen

Der Ansatz

Wie sich das Ruhrgebiet und das Saarland als ehemalige Bergbauregionen in den nächsten 10 bis 20 Jahren entwickeln werden, wird nicht allein von heutigen Standortfaktoren und Strukturen beeinflusst. Vielmehr hängt die weitere Entwicklung dieser Regionen maßgeblich davon ab, welche Antworten sie auf die Herausforderungen der globalen Megatrends finden werden.  

Deshalb geht die RAG-Stiftung-Zukunftsstudie bei der Untersuchung, wie sich das Ruhrgebiet weiterentwickeln wird, von einer globalen Perspektive aus. Die Untersuchung stellt Megatrends mit Fokus auf das Jahr 2025 und globale Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in den Mittelpunkt und bringt sie mittels eines deduktiven Ansatzes in einen regionalen Bezug. Darüber hinaus formuliert die Zukunftsstudie konkrete Handlungsempfehlungen für eine Weiterentwicklung des Ruhrgebiets zu einer lebenswerten Region. Durch den gewählten Ansatz erhält die Außenperspektive eine besondere Bedeutung. Folglich überwindet die Studie den Echo-Raum des Ruhrgebiets.  

Die Studie bedient sich der Delphi-Methodik. Lediglich die potenzielle Entwicklung des Saarlandes wird aus Gründen der mangelnden Vergleichbarkeit mit dem Ruhrgebiet und mit anderen Metropolregionen nicht nach der Delphi-Methodik betrachtet, sondern im Rahmen eines gesonderten Kapitels am Ende des Studienbandes behandelt.  

Die Delphi-Methodik

Bei der Delphi-Methodik handelt es sich um eine anerkannte sozialwissenschaftliche Methode, die in den 1950er-Jahren von der amerikanischen Denkfabrik RAND Corporation entwickelt wurde, um in Anlehnung an das Orakel von Delphi langfristige Entwicklungen zu prognostizieren.  

Die Delphi-Methodik geht nach einem systematischen, mehrstufigen Befragungsverfahren vor. Bei der grundsätzlichen Vorgehensweise bewerten Experten üblicherweise in zwei Abfragerunden Hypothesen hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und des Zeitraums des Eintreffens. Nach jeder Runde erhalten die Teilnehmenden eine Zusammenfassung der Gruppenergebnisse und werden aufgefordert, ihre ursprünglichen Antworten vor diesem Hintergrund entweder zu bekräftigen oder zu revidieren. Dadurch nimmt die Bandbreite der Voraussagen stetig ab. In der Summe entsteht ein sehr präzises und konsistentes Bild. Gleichzeitig verhindert das Verfahren, dass die Meinungsführerschaft einzelner Personen oder Gruppen das Ergebnis verzerrt.

Ein besonderes Kennzeichen der Delphi-Methodik ist, das Wissen unterschiedlicher Experten zu sammeln und miteinander in Beziehung zu setzen. Dadurch treten Informationen zutage, die sonst als verstecktes Expertenwissen unsichtbar geblieben wären. Gegenüber anderen Methoden der Zukunftsforschung erlaubt die Delphi-Methodik die Ableitung sehr zuverlässiger Zukunftsprognosen.

Bei der vorliegenden Delphi-Studie wurden zwei Abfragerunden durchgeführt. In der zweiten Runde wurden nur die Thesen noch einmal an das Panel zurückgespielt, die entweder kontrovers beantwortet worden waren oder bei denen auffällige Minderheitenmeinungen auftraten. Dabei wurden quantitative und qualitative Daten kombiniert, was eine besonders differenzierte Erfassung des Expertenwissens ermöglicht.

Das konkrete Vorgehen

1. Die Analyse und Auswahl der Megatrends

Bedingt durch die Herangehensweise kommt der Identifikation der globalen Megatrends besondere Bedeutung zu. Um einen belastbaren Ansatz entwickeln zu können, wurden daher im Vorfeld der Studie aktuelle Megatrend-Studien renommierter Institutionen ausgewertet und analysiert. Für die weitere Betrachtung wurden jene Megatrends ausgewählt, die in der Mehrzahl der Studien eine zentrale Rolle spielen und gleichzeitig Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ehemaliger Industrieregionen ausüben. Dabei wurden 13 Megatrends ermittelt:

  1. Globalisierung und ökonomische Machtverschiebungen
  2. Digitalisierung und Konnektivität
  3. Demografischer Wandel
  4. Soziale und kulturelle Disparitäten
  5. Urbanisierung
  6. Klimawandel und Umbrüche bei Energie und Ressourcen
  7. Neue Mobilitätsmuster
  8. Neues Lernen und globale Wissensgesellschaft
  9. Gesundheit
  10. Neue Geschäftsmodelle
  11. Konvergenz moderner Technologien
  12. Wandel der Arbeitswelt und der Geschlechterrollen
  13. Staatsverschuldung

2. Die Auswahl der Experten

Für die im Juni 2015 begonnene Befragung wurden 29 Experten ausgewählt. Zwei Drittel bewerten das Ruhrgebiet von außen, ein Drittel stammt aus der Region und ist daher in der Lage, eine Innenperspektive einzunehmen. Alle an der Studie beteiligten Experten verfügen über anerkannte fachliche Expertise für die definierten Megatrends. Zugleich wurde bei der Auswahl darauf geachtet, dass es sich bei den Studienteilnehmern um meinungsstarke Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Kontexten handelt, um eine breite Erfassung verschiedener Arten von Expertenwissen im Sinne eines heterogenen Samplings zu gewährleisten. Das Expertenpanel besteht aus Wissenschaftlern, Praktikern aus der Wirtschaft, Beratern und Medienvertretern sowie aus Zukunftsforschern und ist im Hinblick auf Alter, Geschlecht und Nationalität ausgewogen.

3. Die Interviews

Parallel zur Auswahl der Experten wurde ein Interviewleitfaden entlang einer deduktiven Fragelogik erarbeitet. Die Einstiegsfrage lautete: Welche Megatrends haben Ihrer Meinung nach bis zum Jahr 2025 den größten Einfluss auf die Entwicklung von Ballungsräumen? Dieser Frage schlossen sich weitere Fragen mit steigendem Detaillierungsgrad an. Diese Fragen dienten dazu, die relevanten Megatrends für die Entwicklung von Industrienationen und Ballungsräumen zu ermitteln, die konkreten Auswirkungen der genannten Megatrends auf Ballungsräume zu eruieren und Erkenntnisse speziell für das Ruhrgebiet zu gewinnen. Demnach folgte die Fragelogik der folgenden Trichterlogik:



Im Rahmen der Studie wurden dieser Logik folgend leitfadengestützte qualitative Telefoninterviews mit den ausgewählten 29 Experten geführt. Die in der Regel einstündigen Gespräche wurden mit Erlaubnis der Interviewpartner aufgezeichnet und im Wortlaut (ohne Kürzungen und Streichungen) transkribiert.

4. Die Auswertung der Interviews und die Erstellung der Thesen für die Befragung

Im Anschluss an die Gespräche erfolgte eine quantitative Inhaltsanalyse der Transkriptionen mittels des Auswertungsprogramms MAXQDA. Dabei wurden die Inhalte der Interviews entsprechend den zuvor ermittelten 13 Megatrends codiert. Diese Codierung dient dazu, Einblick in das Datenmaterial zu erhalten, ohne eine inhaltliche Interpretation vorwegzunehmen. Anschließend wurden die Aussagen anhand vorab festgelegter Leitfragen ausgewertet, auffällige inhaltliche Querverbindungen zwischen den Megatrend-Kategorien ermittelt, eine Longlist der Erkenntnisse wurde aufgestellt und daraus eine Shortlist abgeleitet. Letzterer Schritt erfolgte mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse in Form einer Paraphrasierung (nach Philipp A. E. Mayring). Im Anschluss wurden daraus 80 Thesen in vier Themenfeldern (Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Bildung) für die Online-Befragung der Experten ermittelt.

5. Die erste Befragungswelle

Im August und September 2015 fand die erste Welle der Befragung statt. Dabei wurden alle 29 Experten, die sich an der Interviewphase beteiligt hatten, darum gebeten, an der Online-Umfrage teilzunehmen. 27 Experten beantworteten den Fragebogen, die Rücklaufquote beträgt damit 93 Prozent. Die Umfrage umfasste geschlossene Fragen zur Bewertung der 80 Thesen, die nach den vier Themenfeldern Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Bildung geordnet waren.

Der Online-Fragebogen nutzt drei Fragetypen. Fragetyp 1 zielt darauf ab, mithilfe von Zukunftsthesen Aussagen zu mittelfristigen Entwicklungen in Ballungsräumen zur Diskussion zu stellen. Zwei Dimensionen werden hierzu abgefragt: die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Ereignisses mit den Antworten sicher nicht – unwahrscheinlich – möglich – wahrscheinlich – sicher. Und der Zeitraum des Eintretens des Ereignisses mit den Antwortoptionen bis 2025 – nach 2025 – nie.  

Fragetyp 2 stellt zwei kontroverse Szenarien gegenüber und lässt bewerten, welches Szenario das wahrscheinlichere ist. Dieser Abfragetypus erlaubt vier Antwortoptionen: Szenario 1 – eher Szenario 1 – eher Szenario 2 – Szenario 2. Eine Ablehnung beider Szenarien ist nicht möglich. Die Experten mussten sich für eine Option entscheiden.  

Fragetyp 3 fokussiert auf die Voraussetzungen von Zukunftsfähigkeit für Ballungsräume. Es wurde herausgearbeitet, wie bedeutend bestimmte Faktoren für die Attraktivität und Prosperität eines Ballungsraumes sind. Der Fragebogen enthält zwei Antwortdimensionen: die Zustimmung bzw. Ablehnung zu der Voraussetzung in der Skala stimme gar nicht zu – stimme eher nicht zu – unentschieden – stimme eher zu – stimme völlig zu. Sowie die Wahrscheinlichkeit des Eintretens mit den Antwortoptionen sicher nicht – unwahrscheinlich – möglich – wahrscheinlich – sicher.

Die quantitative Auswertung der ersten Befragungswelle erfolgte mithilfe der deskriptiven Statistik. Dabei wurden insbesondere kontroverse und nicht eindeutig beantwortete Fragen identifiziert und mit Pro- und Kontra-Argumenten der Experten aus den Interviews angereichert.

6. Die zweite Befragungswelle

Die zweite Befragung fand im Oktober 2015 ebenfalls in Form einer Online-Umfrage statt. Es wurden nur die Thesen nochmals an das Panel zurückgespielt, die in der ersten Umfragerunde kontrovers oder nicht eindeutig beantwortet worden waren. Die Experten hatten in der zweiten Befragungswelle die Möglichkeit, ihre Meinung auf Basis der Gesamtergebnisse und der Argumente zu revidieren. Sie wurden gebeten, in diesem Fall ihre Entscheidung in einem freien Textfeld zu begründen. Auch die zweite Befragungswelle wurde anschließend quantitativ mithilfe der deskriptiven Statistik ausgewertet.

7. Die deskriptiv-statistische Auswertung der Gesamtergebnisse

Die Umfrageergebnisse lagen in deskriptiv-statistischer Form vor. Sie wurden mit den Erkenntnissen aus den Experteninterviews in einen inhaltlichen Zusammenhang gebracht. Anschließend wurden Zusammenfassungen für die Themenfelder Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Bildung formuliert.  

Weiterhin wurden die Ergebnisse aller 80 Thesen dargestellt. Die Kontextualisierung erfolgte ausschließlich auf Basis der Experteninterviews.  

Einige Thesen zum Thema Bildung geben konkrete Impulse, wie Bildungsinstitutionen Kinder und Jugendliche auf die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vorbereiten sollten. Damit unterscheiden sie sich von den übrigen Thesen, die strategisch gehalten sind. Diese tiefer gehenden Bildungsthesen gelten für das Ruhrgebiet und das Saarland gleichermaßen und liegen im besonderen Handlungsinteresse der RAG-Stiftung. Sie wurden im Kapitel Fokus Bildung zusammengefasst und näher erläutert.

8. Ableitung der Zukunftsthesen der RAG-Stiftung zur mutigen Erneuerung des Ruhrgebiets

Nach der Betrachtung und Bewertung der 29 Interviews wurde auf Basis der daraus gewonnenen Erkenntnisse eine Reihe von Hypothesen formuliert. Sie enthalten Handlungsempfehlungen für die Weiterentwicklung des Ruhrgebiets zu einer lebenswerten Region und scheuen auch nicht die ehrliche Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Transformation des Reviers.  

Nach der Erarbeitung der Handlungshypothesen erfolgte deren Validierung und Ergänzung bzw. deren Verwerfung auf Basis der Befragungsergebnisse der Online-Befragungen. Voraussetzung hierfür war, dass die Mehrheit der Experten der These zustimmt und ein Eintreffen bis 2025 für wahrscheinlich hält.

Zuletzt wurden die Handlungshypothesen zu 7 Zukunftsthesen der RAG-Stiftung mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse durch Paraphrasierung (nach Philipp A. E. Mayring) verdichtet. Ziel der Zukunftsthesen ist es, einen öffentlichen und politischen Diskurs zur Weiterentwicklung der Region anzustoßen.

Die Begleitung durch den wissenschaftlichen Beirat

Der gesamte Prozess der Studienerstellung wurde von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet. Er hat die methodische Stringenz des Studienprozesses sowie die inhaltliche Objektivität und Neutralität der Ergebnisse geprüft. Der wissenschaftliche Beirat kam zu vier zentralen Anlässen des Studienprozesses zusammen, um das methodische Vorgehen zu evaluieren:

  • Zur Prüfung des Interviewleitfadens.
  • Zur Prüfung der erarbeiteten Thesen für die erste Welle.
  • Zur Einschätzung der ausgewählten Thesen für die zweite Welle.
  • Zur Einschätzung der Plausibilität der finalen Ergebnisse.

Alle Schritte wurden vom wissenschaftlichen Beirat als methodisch einwandfrei verabschiedet.

Losgelöst von der Delphi-Methodik: Der Blick auf das Saarland

Die potenzielle Entwicklung des Saarlandes wurde aus Gründen der mangelnden Vergleichbarkeit mit dem Ruhrgebiet und mit anderen Metropolregionen nicht nach der Delphi-Methodik untersucht, sondern im Rahmen von Interviews mit Saarland-Experten, Megatrend-Experten und Zukunftsforschern zu den Themen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Bildung erörtert und in vier themenspezifischen Aufsätzen zusammengefasst.

 

Hintergrund:

Globale Megatrends



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